Jakobsweg Halbzeiterkenntnisse

Photo by Hansjörg Keller on Unsplash

23. August 2013

Gestartet mit 760 Kilometern bis zum Ziel vor 21 Tagen sind es jetzt nur noch weniger als 300 Kilometer. Zeit für “Lessons identified” und “Lessons learned”.

Kamera:

Durch meinen Wunsch eine etwas bessere Kamera mitzuschleppen und damit auch den Laptop zum Fotos speichern und etliche Ladegeräte und Objektive war schnell klar, dass das alles nicht in den Rucksack zum täglichen Herumtragen passt. Es hätte gepasst, wäre aber durch das Gewicht untragbar geworden oder hätte die tägliche Kilometer-Leistung drastisch reduziert.

Es musste also etwas geplant werden mit Gepäcktransport, das heißt, dass ein Gepäckstück (Koffer) immer von einer Unterkunft zur anderen transportiert wird. Bei Ausrüstung für ein paar tausend Euro fiel auch die Möglichkeit ins Wasser, in Massenunterkünften ohne Verschlussmöglichkeit und ohne ausreichend Steckdosen zu übernachten.

Die Bilder, die man mit einer ordentlichen Kamera hinbekommt, sind natürlich deutlich besser als die mit einer Kompaktkamera geschossenen, aber da die Lichtverhältnisse eigentlich immer relativ gut sind, hätte es vielleicht auch eine kleinere Kamera getan. Damit wäre der Bedarf an Gepäcktransport weggefallen und alles hätte in einen Rucksack gepasst.

Ergebnis: Nächste Tour mit kleinerer Kamera und alles in einem Rucksack.

Gepäcktransport:

Wie schon bei Kamera geschildert, war der Gepäcktransport nur wegen der Kamera nötig, hatte aber auch den Vorteil, dass ich größere Mengen/Auswahl an Medikamenten mitnehmen konnte. Auch ein paar Sachen auf „Vorrat“ konnte ich kaufen, wie Tempotaschentücher, Verpflegung u.s.w.

Ergebnis: Der Vorteil mit den Vorräten rechtfertigt nicht den zusätzlichen Koffer.

Vorher gebuchte Unterkünfte:

Die Buchung über einen Reiseveranstalter ist relativ teuer. Ich bezahle im Schnitt 100 € pro Tag für Unterkunft in einem Einzelzimmer, Gepäcktransport und Frühstück. Viele der Unterkünfte, in denen ich wohne, kosten aber nur 30–50 € pro Nacht und das Frühstück kostet 3–5 €.

Zu wissen, wo man die nächsten Nächte schläft, hilft sich mehr auf die Wanderung zu konzentrieren und nimmt ein wenig Stress aus der ganzen Veranstaltung. Dafür verliert man die Flexibilität, so weit zu laufen, wie man an einem Tag kann. Die Alternative wäre von unterwegs Unterkünfte online zu buchen oder telefonisch vorzubestellen.

Telefonate sind wegen der fehlenden Englisch-Kenntnisse im Land sehr problembehaftet und die Möglichkeit der online-Buchung funktioniert in vielen Gebieten nicht, da in einigen Orten zwar Hostels und Hotels existieren, diese aber bei keinem der Hotel-Portale verzeichnet sind. Man muss damit rechnen, mitunter mal an einem Ort anzukommen und keine Unterkunft ist verfügbar. Wer dann flexibel ist und einfach ein paar Kilometer bis zum nächsten Ort weiter laufen kann, hat wenig Probleme. Auch kann man in einem üblen Fall auch mal ein Taxi nehmen (relativ günstig in Spanien) und bis zur nächsten verfügbaren Unterkunft weiterfahren.

Viele Pilger erhöhen die Chancen auf Unterkunft, in dem sie morgens ab 4 Uhr loslaufen (im Sommer die ersten 2–3 Stunden im Dunkeln mit Kopflampe), um möglichst früh am Ziel anzukommen. Dies ist nichts für mich, da ich erst spät einschlafe und dann nicht um 4 Uhr aufstehen kann und will. Außerdem möchte ich nicht ein Drittel des Jakobsweges im Dunkeln laufen. Das Eintreffen am Zielort gegen 10 Uhr morgens ist auch nicht besonders erstrebenswert, da man in vielen Orten absolut nichts unternehmen oder anschauen kann.

Ergebnis: Die von mir gewählte Variante ist nicht besonders gut, aber alle Alternativen auch nicht. Ich bin noch etwas unschlüssig, was ich bei einer Wiederholung dieser Veranstaltung machen würde.

Einzelzimmer vs. Massenherberge:

Viele Pilger glauben, dass eine wirkliche Pilgerreise nur in den etwas unbequemen Herbergen stattfinden sollte. Der Vorteil bei vielen dieser Unterkünfte ist der günstige Preis (5-10 € pro Nacht) und die Gemeinschaft; es wird bei einigen zusammen gekocht, gegessen und gebetet (wer will). Dafür wird im Regelfall um 22 Uhr das Licht ausgeschaltet und die Tür abgeschlossen und um 4 Uhr brechen die ersten schon wieder auf.

Geschlafen wird meistens mit sehr vielen in einem Raum in Etagenbetten. Standardausstattung, um schlafen zu können, sind Ohrstöpsel. Viele Pilger führen Insektenspray mit, um Matratzen vorher ordentlich einzusprühen (es gibt da manchmal Hygiene-Probleme …). Auch die sanitären Einrichtungen können gewöhnungsbedürftig sein, was den Reinigungszustand betrifft.

Geschlafen wird im mitgebrachten Schlafsack, der außerhalb des Sommers auch gerne etwas dicker sein kann, da einige Herbergen nicht geheizt sind. Für mich wäre schon das 22-Uhr-Licht-aus und 4-Uhr-Licht-an ein dramatischer Einschnitt in meine Lebensgewohnheiten. Auch habe ich beruflich bedingt schon diverse hundert Nächte mit unbekannten Leuten zusammen geschlafen und brauche die Erfahrung nicht mehr unbedingt.

Ergebnis: „Beim nächsten Mal“ würde ich die Herbergen bestimmt mal ausprobieren, aber die Masse der Zeit lieber in einem zugegeben teureren Zimmer (25-50 €) mit eigenem, sauberem Bad zubringen, in dem man sich zurückziehen und ruhiger schlafen kann. Gemeinschaft kann man sich auch besorgen, indem man sich tagsüber mit Leuten z. B. zum Essen oder sonstigen Aktivitäten verabredet.

Der Weg und die Zeit:

Der von mir gewählte, berühmte Jakobsweg hat mir in den ersten ca. 2 Wochen teilweise atemberaubende Landschaften geliefert. Danach wurde es etwas eintönig, soll aber gegen Ende wieder besser werden.

Der Zeitbedarf ist immens, wenn man wie ich nicht 12 Stunden mit gesenktem Kopf und Schmerztabletten unterwegs sein will, sondern was sehen will. Nicht jeder hat diese Zeit (circa 40 Tage) und verkürzt, in dem er z. B. nur die letzten 100 Kilometer des Weges geht (Voraussetzung für den Erlass der Sünden in Santiago). 100 Kilometer (= 4–5 Tage) sind viel zu wenig, um den Weg auf sich wirken lassen zu können.

Nach den bisherigen Erfahrungen wäre es aber eine gute Alternative, z. B. 10 Tage am Anfang des Weges zu laufen (circa 200 km) und dann nach einer Bus-Reise die letzten 200 Kilometer bis Santiago zu gehen (inklusive An- und Abreise weniger als 4 Wochen). Damit erspart man sich ein paar langweilige Tage, wie ich die zurzeit gerade habe und ist trotzdem lange genug unterwegs.

Ergebnis: Für mich geht nur die ganze Strecke (wenigstens beim ersten Mal), aber das ist eine rein persönliche Geschichte.

Land und Leute:

In Urlaubsorten in Spanien sind die Einheimischen für Gastfreundschaft berühmt. Das ist auf dem Weg teilweise ganz anders. Was im Baskenland (die ersten 200 Kilometer) noch relativ gut funktioniert, wird im Mittelstück stellenweise gewöhnungsbedürftig.

Pilger, die den Weg schon viel früher begonnen haben und durch Frankreich gepilgert sind, haben deutlich bessere Wertungen für die französische Gastfreundschaft abgegeben. Auch meine Erfahrungen mit Frankreich und Franzosen sind deutlich besser als mit Spanien und Spaniern.

Grundsätzlich soll der Weg aber kein reines Vergnügen sein und so nimmt man jedes Ärgernis eher gelassen hin. Man ist nun mal in einem anderen Land zu Gast und hat absolut keinen Anspruch auf gar nichts! Landschaftlich ist es bisweilen wunderschön und stellenweise ziemlich langweilig (siehe „Der Weg und die Zeit“).

Ergebnis: Nada.

Spirituelle Erfahrung:

Viele Leute haben sich sehr verändert durch die Pilgerreise und so war ich gespannt, was mich erwartet. Da ich mich auch sonst mit mir auseinandersetze, wenn ich glaube, dass ich nicht ganz richtig ticke, gab es bisher keine dramatischen Veränderungen in meiner Bewertung über mein Verhalten und mich.

Was aber sehr hilfreich ist, dass hier auf dem Weg nur wenige Dinge von Bedeutung sind (Wasser, Essen, Unterkunft) und man damit plötzlich viel Zeit und Energie hat über, sich und die Welt nachzudenken. Viele Dinge sehen einfacher und viel klarer aus. Die Abhängigkeit, die man Zuhause nicht kennt (Wasserhahn, Vorratsschrank, eigenes Bett), führt bei mir dazu, ein gewisses Vertrauen in Gott (oder eine höhere Macht für andere) zu entwickeln.

Der Grundsatz „der Weg gibt Dir das, was Du brauchst, wenn Du es brauchst“ ist 100 % zutreffend. Mir ist schon häufiger das Wasser ausgegangen und es gibt genau zur richtigen Zeit Abhilfe. Wenn man einsam ist, kann man sich darauf verlassen, dass kurze Zeit später jemand ein Gespräch mit Dir anfängt und Dich ein Stück begleitet. Das ist eine irre Erfahrung.

Die Menschen, die man trifft, sind manchmal ziemlich abgefahren und man würde viele als „Spinner“ bezeichnen, aber alle sind positiv, offen und hilfsbereit. Manchmal schüttelt man innerlich den Kopf, wenn man Lebensgeschichten hört und ist dann etwas beschämt, wenn man mitbekommt, dass der „Spinner“ neben einem seit Jahren eine Armenküche leitet, todkrank ist oder sein ganzes Geld für wohltätige Dinge spendet. Mich hat es gelehrt, immer einen zweiten oder dritten Blick auf jemanden zu werfen, bevor man sich ein Urteil aneignet. Im richtigen Leben wird das wieder schwieriger, da Leute normalerweise weniger offen sind und man viel länger benötigt, um das ganze Bild zu sehen.

Ergebnis: Auch wenn ich nicht jeden Tag zusammenbreche und alles über den Haufen werfe, an das ich jahrelang geglaubt habe, ist der Weg eine wirkliche Erkenntnis und Hilfe.

Fahrradpilger:

Wer die letzten 200 Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegt, wird ebenfalls von seinen Sünden befreit. Zu Hause benutze ich mein Fahrrad, wenn ich zu faul bin zum Laufen und damit habe ich schon fast alles gesagt. Der Weg wird seit 1000 Jahren von Leuten gelaufen und die Anpassung der katholischen Kirche an die (geschätzt 95 % spanischen) Fahrradpilger verstehe ich nicht ganz. Der nächste Schritt sind vermutlich Motorrad- und Auto-Pilger …

Ergebnis: Wer nicht gesundheitlich am Laufen gehindert wird, legt den Weg auf den Füßen zurück – Basta!

Ich bin mal gespannt, ob sich meine Erkenntnisse auf den verbleibenden knapp 300 Kilometern noch ändern werden. Ich werde berichten.

Zu Ausrüstung und Bekleidung werde ich auch noch später meinen Senf abgeben.

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